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Bruno J. Schor

 

Die Schule für Kranke –
eine unverzichtbare Bildungseinrichtung mit Zukunft

 

(Veröffentlichung: Schulverwaltung in Bayern, Heft 3 / 2011 S66ff.)

 

Nachlese zu einem bedeutenden internationalen Kongress

Unter dem Motto „Das kranke Kind – Aufgehoben im Netzwerk von Pädagogik und Medizin“ fand vom 3.-7. November 2010 ein internationaler Kongress mit etwa 400 Teilnehmern in München statt.
Dieser Beitrag zielt darauf ab, wichtige inhaltliche Aspekte dieses Symposions aufzugreifen, um insbesondere der Schule für Kranke als unentbehrlicher, inklusiver Bildungseinrichtung neue Perspektiven zu eröffnen.  

 

HOPE bildet die Basis für die Realisierung dieses Projekts.

Planung, Organisation und Durchführung dieser Fachtagung oblagen dem Förderverein Schule für Kranke München e.V., der HOPE Sektion Deutschland, der Staatlichen Schule für Kranke, München, sowie der Schule an der Heckscher Klinik, München. Diesen Verantwortungsträgern gebührt höchste Anerkennung für das logistisch perfekte Management sowie für die Akquise hochkarätiger Fachreferenten aus Medizin und Pädagogik. Die Plattform für das Symposion bot HOPE - Hospital Organisation of Pedagogues in Europa -. (Dieses Kürzel ist - in seiner originären Wortbedeutung - in der Tat auch ein Synonym für Hoffnung aller kranker Kinder und Jugendlichen auf Genesung.) HOPE stellt eine Vereinigung von Lehrern der Schule für Kranke dar und umfasst gegenwärtig etwa 300 Mitglieder aus 20 Staaten Europas. Seit 1988 findet dieser fachliche Austausch von Experten aus Medizin und Pädagogik in regelmäßigen Abständen auf der europäischen Bühne statt, um sowohl die hohe Bedeutung der Pädagogik bei Krankheit in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken als auch die Professionalität in der interdisziplinären Theorie und Praxis zu erhöhen. Im Jahr 2012 richtet Holland den achten europäischen Kongress in Amsterdam aus.

 

Pädagogik bei Krankheit ist - im wahrsten Wortsinn – Heilpädagogik.

Die Heilpädagogik (jetzt Sonderpädagogik genannt) war und ist stetig auf der Suche nach Selbstverständnis, nach Identität und Authentizität. Zweifelsohne ist es nicht leicht, valide und fundierte Parameter zu benennen, die eine sachlogische Unterscheidung zur allgemeinen Pädagogik gestatten. So vollzieht sich dieses Ansinnen eher auf abstrakter Ebene. Haeberlin (1996) etwa bezeichnet „Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft“. Für Speck (2003) besteht für den „Heilpädagogen eine konstitutive Bindung an personale und sozial-ethische Werte und Werthaltungen.“ Indes, in der Pädagogik bei Krankheit und in der Schule für Kranke entfaltet sich Heilpädagogik als konkrete Erziehungswirklichkeit. Die Schule für Kranke verkörpert wie wohl keine andere Schulart heilpädagogisches Handeln. Neben dem allgemein gültigen Auftrag des Erziehens und Unterrichtens kommen in der Pädagogik bei Krankheit fünf weitere essentielle, spezifische Aufgaben zum Tragen: das Diagnostizieren, das Fördern, das Beraten, das Therapieren und die Pflege. Überdies, wie kein anderer sonderpädagogischer Förderschwerpunkt besitzt die Pädagogik bei Krankheit höchste Affinität zur Medizin; es besteht gleichsam eine Symbiose zwischen den beiden Disziplinen. Ihr verbindender, unteilbarer Auftrag lautet: Persönlichkeitsentwicklung kranker Kinder und Jugendlicher mittels Heilung durch Medizin und Heilung durch Bildung. Diese Bildungsaufgabe ist im bayerischen Schulgesetz niedergelegt: „Die Schule für Kranke soll…den Heilungsprozess unterstützen“ (BayEUG Art. 23 Abs.1 Satz 3). Auch hinsichtlich der Organisationsstruktur bilden Krankenhaus und Schule für Kranke eine untrennbare Einheit. Ihre Disziplinen stehen in unauflösbarer Wechselwirkung. Ihr gemeinsames Handeln ist interdisziplinäres Handeln.

Pädagogik bei Krankheit ist zuallererst Heilpädagogik. Beim Heilungsprozess von kranken Kindern und Jugendlichen erfüllt sie in engem, kooperativem Verbund mit der Medizin einen komplexen, interdisziplinären und subsidiären Bildungsauftrag.

 

Die Schule für Kranke braucht Identität und Profil(ierung).

Seit 2003 hat sich die Schule für Kranke als eigene Schulart etabliert. Mit diesem nunmehr herausgehobenen Status hat sie sich aus der Nische der Förderschule gelöst; sie steht gleichwertig und gleichrangig neben den allgemein bildenden Schulen, den beruflichen Schulen und den Förderschulen (vgl. BayEUG Art. 6 Abs. 2). Diese veränderte Positionierung ergibt sich insbesondere aus der Tatsache, dass Krankheit nicht vor Intelligenz Halt macht. So besuchen Bayern weit aktuell etwa 1000 Berufsschüler, 2500 Gymnasiasten, 2000 Realschüler, 3600 Hauptschüler, 3500 Grundschüler sowie 400 Schüler aus anderen Schultypen die Schule für Kranke; lediglich 1900 Kinder und Jugendliche stammen aus den Förderschulen. Gleichwohl, trotz ihrer Eigenständigkeit bewahrt diese bedeutende, ja unverzichtbare Schulart inhaltliche und fachliche Nähe zur Sonderpädagogik und zur Förderschule. Diese Affinität findet im bayerischen Schulgesetz eine zweifache Legitimation (vgl. BayEUG Art. 24 und Art. 33). Überdies ist zu konstatieren, dass alle Schulleitungen der Schulen für Kranke dem sonderpädagogischen Metier entstammen.

Indes, im Gegensatz zu allen übrigen Schularten steht die Schule für Kranke bei der Suche nach einem spezifischen Profil insbesondere vor einer fünffachen Hürde:

 

Wiewohl keine Schule für Kranke der anderen gleicht, liegen in dieser Vielfalt, Heterogenität und Differenziertheit zweifelsohne Reiz und Reichtum zugleich. Es lassen sich vielfältige Aspekte finden, die dieser Schulart eine verbindende, unverwechselbare Prägung verleihen. Exemplarisch sollen drei essentielle Aspekte benannt werden:

Durch ihre typischen Charakteristika hebt sich die Schule für Kranke vom traditionellen Nebeneinander der bestehenden Schularten ab. Ihr wächst die Funktion einer (Ver-)Mittlerin zwischen den einzelnen Lernorten zu. Dennoch braucht sie zur eigenen Identitätsfindung im Kontext des bestehenden Bildungsgefüges ein spezifisches Schulprofil.

 

Die Schule für Kranke benötigt künftig ein mobiles, inklusives Instrument.

Zukunftweisende Sonderpädagogik orientiert sich an folgender These: Für jeden einzelnen Förderschwerpunkt, für den eine „stationäre“ Bildungseinrichtung - sprich: spezifische Förderschulform - bereit gestellt wird, muss zwingend ein „mobiles“ - sprich: Inklusion förderndes Bildungsangebot verfügbar sein. Aus diesem Grund sind in der jüngeren Vergangenheit etwa für die Förderschwerpunkte Lernen, Geistige Entwicklung oder auch für Autismus die entsprechenden Mobilen Sonderpädagogischen Dienste (MSD-L, MSD-G, MSD-A) entstanden. Sie erbringen eine wichtige inklusive Dienstleistung in der wohnortnahen allgemeinen Schule. Dieser Dualismus von „stationärer“ und „inklusiver“ Dienstleistung ist für die Schule für Kranke vor allem mit Blick auf sanfte Rückführung und nachhaltige Re-Integration dieser Kinder und Jugendlichen oberstes Gebot. Es ist nämlich unstrittig, dass Schüler nach Beendigung ihres Klinikaufenthalts und bei Rückkehr in Elternhaus und Stammschule nicht unvermittelt vom Status der Krankheit in den Zustand völliger Gesundheit übertreten. Häufig haben sie Rückschläge zu verkraften, physische und psychische Belastungen durchzustehen, oftmals wechseln sich Phasen von Angst vor Rückfall und Hoffnung auf Gesundung ab. In diesen Stress behafteten Situationen ist es ethische Pflicht, diesen jungen Menschen im Sinne individueller Nachsorge zur Seite zu stehen. Der Schule für Kranke obliegt es, dem viel zitierten Subsidiaritätsprinzip, das die Sonderpädagogik für sich beansprucht, nicht nur im „stationären“ Bereich, sondern künftig auch auf dem „mobil-inklusiven“ Terrain vermehrt Geltung zu verschaffen. Indes, zahlreiche Lehrkräfte der Schule für Kranke berichten, dass die überaus schwierige und deshalb höchst anspruchsvolle Phase von Rückführung und Wiedereingliederung bisher absolut unterbelichtet ist oder überhaupt nicht abgedeckt wird. Der Bereich professioneller, vor allem aber humaner Nachsorge im Sinne einer Optimierung der Lern- und Lebensbedingungen von kranken Kindern und Jugendlichen ist demnach bis zum heutigen Tag ein Desiderat. Für die Pädagogik bei Krankheit ist es also geboten, - in Analogie zu den in allen Förderschwerpunkten erfolgreich agierenden Mobilen Sonderpädagogischen - ein Inklusion förderndes Instrumentarium verbindlich zu installieren und bedarfsorientiert mit Personalressourcen auszustatten, um sonderpädagogische Fürsorge und Nachsorge nachhaltig zu garantieren. Aus dem umfänglichen Spektrum mobilen und somit inklusiven Handelns seien - beispielhalber - nachfolgende Aspekte genannt:  

Schulische Re-Integration und individuelle Nachsorge von kranken Kindern und Jugendlichen gelten als überaus komplexe, bisweilen als komplizierte Aufgabenfelder. Aus diesem Grund besteht dringender Handlungsbedarf nach einem verbindlichen mobilen Konzept mit bedarfsbezogener Personalausstattung. Denn: Pädagogik bei Krankheit ist weit mehr als Krankenhauspädagogik!

 

Die Schule für Kranke muss alle Formen des Nachteilsausgleichs für ihre Klientel einfordern.

In keinem Bereich wird der Bedarf an mobiler Dienstleistung offenkundiger als bei Einforderung und Durchsetzung des so genannten „Nachteilsausgleichs“. Wiewohl dieses Element im bayerischen Schulgesetz rechtlich niedergelegt und den Schülern verbindlich garantiert ist, herrscht vielerorts noch immer das irrige Bewusstsein, der Nachteilsausgleich sei eine Kann-Leistung, aber keine Pflicht-Leistung; es liege demnach im Ermessen der einzelnen Schule oder gar des einzelnen Lehrers, diese humane Pflichtleistung zu ignorieren, zu negieren oder doch gnädig zu gewähren.  Man muss in diesem Kontext dem renommierten Theologen Hans Küng beipflichten, wenn er behauptet, dass die Gegenwartsgesellschaft zwar „hominisiert“, aber keinesfalls  immer „human“ sei.
Gegen dieses fahrlässige, ja gesetzeswidrige Vorgehen lassen sich vielfältige Argumente benennen: Krankheit ist kein Zustand, in den ein Kind oder Jugendlicher durch Selbstverschulden gerät. Krankheit ist vielmehr ein offenkundiges Merkmal menschlicher Begrenztheit und Endlichkeit, auch ein Indiz für die Nähe des Menschen zu Leid und Tod. Krankheit kennt keine Privilegierte; sie macht weder vor (Hoch)-Begabung oder Behinderung Halt noch nimmt sie Rücksicht auf sozioökonomischen oder gesellschaftlichen Status. Aus diesem Grund bedeutet der Nachteilsausgleich kein Almosen, sondern versteht sich als Kompensation in unverschuldeter Notlage, als Entlastung auf dem Weg aus einer Extremsituation zur Normalität.
Der Gesetzgeber hat die vielfältigen Optionen der Gewährung des Nachteilsausgleichs nicht im Detail geregelt. Dieses Vorgehen ist angemessen, denn es gibt hierfür keine Allgemeingültigkeit, keine Patentlösung. Vielmehr ist für jeden erkrankten Schüler stets eine individuelle Einzelfall-Regelung vonnöten. Es ist von Vorteil, an diesem Ort - neben der allseits bekannten und praktizierten Prüfungszeitverlängerung - die Bandbreite kreativer und konstruktiver Formen des Nachteilsausgleichs thesenhaft zu benennen:

Aus ethischen Gründen wird der Nachteilsausgleich zum verbürgten Recht erhoben. Kranke Kinder und Jugendliche haben einen legitimen Anspruch auf Fremdhilfe zur Wiedererlangung von Selbsthilfe und Autonomie. Alle Schulen stehen in der Pflicht, individuelle Formen des Nachteilsausgleichs verbindlich anzuwenden.

 

Pädagogik bei Krankheit verlangt nach hoher Expertise und Professionalität.

Für jede Schulart gibt es ein spezifisches Lehramtsstudium mit so genannter „erster und zweiter Phase“. Für die Schule für Kranke bleibt dieser Qualitätsanspruch bis heute ein Desiderat. Indes, in keinem pädagogischen Studiengang scheint Professionalität insbesondere auf den Feldern von Didaktik und Methodik, Diagnostik und Beratung mehr geboten als in der Pädagogik bei Krankheit. Eine Analyse der universitären Curricula zur Lehrerbildung offenbart, dass sich dort so gut wie kein thematischer Bezug zu Pädagogik bei Krankheit finden lässt. Vor allem aber wirkt jene Tatsache nachgerade grotesk, dass selbst in den einzelnen sonderpädagogischen Fachrichtungen (jetzt als „Förderschwerpunkte“ bezeichnet) nahezu keine inhaltlichen Anknüpfungspunkte hergestellt werden können. Nach aktuellem Kenntnisstand kann von Studierenden der Gegenstand der Pädagogik bei Krankheit weder im Sinne einer Propädeutik noch als so genannte „Erweiterung“ im Sinne eines zweiten, ergänzenden Förderschwerpunktes gewählt werden. Das punktuelle universitäre Angebot ist letztlich davon abhängig, welche Bedeutung der einzelne Dozent diesem fundamentalen Aspekt beimisst. Diese Fahrlässigkeit bestehe - so wird jedenfalls kolportiert - ebenso in der zweiten Phase der Lehrerbildung. Die Erwartung, man könne sich das unentbehrliche Know-how zuallererst in der dritten Phase von Fort- und Weiterbildung gleichsam durch „training on the job“ nachträglich aneignen, erweist sich jedenfalls aus bisherigem Erfahrungswissen als irrig. Man kann wohl behaupten: In allen Phasen der Lehrerbildung dominiert auf dem Feld der Pädagogik bei Krankheit zweifelsohne ein gewisses Maß an Beliebigkeit. 

Was in diesem Metier zeitnah, realistisch und nahezu aufwandsneutral veränderbar ist, damit Studierende ein Basiswissen erwerben können, sei thesenhaft dargestellt: 

Freilich, langfristig sind im Bereich der Lehrerbildung grundlegende Veränderungen und Innovationen vonnöten, um der Pädagogik bei Krankheit jenen Status zu verleihen, der ihr gebührt. An die Stelle von Zufälligkeit und Beliebigkeit muss ein Höchstmaß an Verbindlichkeit treten. Folgende Maßnahmen, die zweifelsohne einen langen Atem bei der Realisierung fordern werden,  können die Professionalität der Studierenden erhöhen:

Professionelle Pädagogik am Krankenbett braucht neben dem Besitz fachlicher Expertise vor allem Erfahrung, Empathie und Sensibilität. Aus diesem Grund ist es angezeigt, dass das (sonder)pädagogische Personal über mehrjährige Berufserfahrung verfügt. Bei Befähigung und Interesse sollten die „Neueinsteiger“ - etwa wie in Anlehnung an die Mobilen Sonderpädagogische Dienste - in Begleitung eines berufserfahrenen Mentors Schritt für Schritt in diese verantwortungsvolle Arbeit eingeführt werden. Vor dem Hintergrund von „lebenslangem Lernen“ bedeutet Professionalität in der Pädagogik bei Krankheit ein Zweifaches: einerseits die Bereitschaft zu stetiger, kontinuierlicher Fortbildung, anderseits das Vertrauen in die Notwendigkeit und Wirkkraft von Selbst- und Fremdevaluation sowie von Supervision.

Es ist dringend geboten, unverzüglich ein verbindliches Curriculum für die Pädagogik bei Krankheit zu entwickeln, das allen Studierenden der einzelnen Lehrämter den Erwerb von Basiswissen und Basiskönnen garantiert. Als modularisiertes Angebot kann es zu vertiefter Expertise führen. Die Sonderpädagogik sollte hierbei eine Vorreiter- und Vorbildfunktion für die anderen Schularten übernehmen.

 

Die Schule für Kranke ist eine inklusive Bildungseinrichtung.

Gegenwärtig ist „Inklusion“ - national wie international - zu einem Mega-Thema im Diskurs über zukunftorientierte schulische Bildung geworden. Die UN-Konvention, die in Artikel 24 ein „inclusive education system at all levels…“ einfordert, wurde auch von Deutschland unterzeichnet. Diese Verpflichtung stellt für das Bildungssystem hierzulande eine ungeahnte Herausforderung dar. Dies gilt für das überaus gegliederte allgemeine Schulwesen ebenso wie für das hoch differenzierte Förderschulangebot. Angesichts der Tatsache, dass von den etwa 484300 Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf über 408100 die einzelnen Förderschulformen besuchen und der minimale Restanteil in allgemeinen Schulen integriert ist (vgl. Behindertenbericht der Bundesregierung vom Juni 2009), ruft die internationale Kritik auf den Plan. Es gilt die Behauptung,  dass Deutschlands Bildungswesen durchaus hierarchisch anmute; ebenso, dass man von einer „Schule für (möglichst) alle Schüler“ meilenweit entfernt sei.
Bei der Analyse des deutschen Bildungssystems moniert man insbesondere, dass es vom Makel allzu früher Zuweisung in die weiterführenden Schulen und von übermäßiger Aussonderung in sonderpädagogische Einrichtungen behaftet sei. Korrekt ist zweifellos die Behauptung, dass hierzulande „die Schule als Verteilerin von Sozialchancen“ (Schelsky) fungiert. Der Wahrheitsgehalt dieser These ist unbestritten, denn jedermann weiß, dass etwa der Besuch eines Gymnasiums die Berufs-, Sozial- und Lebenschancen weit mehr erhöht als der Besuch einer Hauptschule. Ebenso gilt es als gesicherte Erkenntnis, dass ein innerer Zusammenhang zwischen geringer Schulbildung und niedrigem sozioökonomischem Status sowie erhöhter Arbeitsplatzgefährdung besteht. Geringe Schulbildung weist bekanntermaßen vor allem jene Klientel auf, die eine Förderschule besucht; diese Schulart besitzt in der Werteskala des ausdifferenzierten Bildungssystems wohl am wenigsten Chancen, als „Verteilerin von Sozialchancen“ zu agieren. Die permanenten, häufig erfolglosen  Bemühungen um die berufliche Ausbildung und Eingliederung von jungen Menschen mit Behinderung sind ein beredter Beweis für die vorgenannte Behauptung. Indes, es bleibt die Frage: Welches Selbstverständnis hat eine Förderschule, die es zu ihrem Bildungsauftrag erhebt, ihre Schulabgänger auf ein Leben ohne Arbeit und auf die Rechte und Ansprüche als Hartz-IV-Empfänger vorzubereiten? Diese perspektivlos wirkende, höchst resignative Grundhaltung, die zwingend die künftige Existenzberechtigung der Förderschule in Frage stellt, ist entschieden zu verneinen. Keine Bildungseinrichtung hat eine größere Verpflichtung, die jungen Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den unterschiedlichen Förderschwerpunkten in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern, Lebensmut zu geben, Selbstwertgefühl zu stärken sowie berufliche Perspektiven zu eröffnen als die Förderschule.

Die aktuelle Inklusionsdebatte bringt in der Tat die Förderschule in ihrer  facettenreichen Struktur auf den Prüfstand. In bevorzugter Weise aber wendet sich diese UN-Forderung an die allgemeine Schule. Sie steht in der Verpflichtung, im Zusammenwirken mit der Förderschule - eine systemische Kehrtwende zu vollziehen, um das Monitum der UN nach signifikanter Ausweitung gemeinsamen Lernens von jungen Menschen mit und ohne Behinderung zeitnah und nachhaltig zu realisieren.

Freilich, jenseits dieser mahnenden Positionen lassen sich zwischenzeitlich vielfältige Konzepte finden, die versuchen, den inklusiven Intentionen der UN-Konvention in der Praxis gebührend Rechnung zu tragen. Auf diesem Weg braucht man langen Atem; auf diesem Weg kann die Schule für Kranke auf Grund ihrer spezifischen und zugleich exponierten Position für das allgemeine und sonderpädagogische Schulwesen eine bedeutende Leit- und Vorbildfunktion übernehmen, weil ihr schon jetzt  fundamentale Merkmale einer inklusiven Schule inne wohnen, die sich vor allem in Folgendem konkretisieren lassen: 

Die Schule für Kranke ist deshalb eine inklusive Bildungseinrichtung, weil sie Bildung als Menschenrecht bejaht, weil sie das Trennende von „So-Sein“ und „Anderssein“ auflöst und Krankheit als Phänomen einstuft, das die Menschen verbindet, weil sie sich im gegenwärtigen Bildungsgefüge wohl als „gerechte Verteilerin von Sozialchancen“ erweist.
In Sachen Inklusion können allgemeine Schulen und Förderschulen gleichermaßen von der Schule für Kranke profitieren!

 

Fazit

Im Ganzen ist ein Vierfaches zu konstatieren:

Zuerst: Die fundierten Fachbeiträge und vielfältigen Workshops anlässlich des HOPE-Kongresses haben offengelegt, dass Pädagogik bei Krankheit nicht in isoliertem Handeln, sondern einzig in enger Kooperation, gleichsam im „Netzwerk“ der affinen Fachdisziplinen volle Wirkung erzielen kann.
Sodann: Die Schule für Kranke ist durch die Verankerung in Schulgesetz und Schulordnung rechtlich angemessen positioniert und legitimiert. Gleichwohl bedarf es einer Profilbeschreibung, die den spezifischen subsidiären Bildungsauftrag definiert und zugleich die Funktion dieser Einrichtung als Mittlerin und Bindeglied zu allen übrigen Schularten herausarbeitet.
Ferner: Um dem Anspruch effektiver Re-Integration, Nachsorge und Inklusion kranker Kinder und Jugendlicher dauerhaft zu genügen, braucht die Schule für Kranke unverzüglich ein „mobiles“ Instrument, das etwaige Hindernisse und Hürden auf dem bisweilen steinigen Weg von der Schule für Kranke zur Stammschule beseitigen hilft.
Zuletzt: Pädagogik bei Krankheit und Schule für Kranke müssen künftig stärker als bisher in den gesamtpädagogischen Fokus rücken. Vor allem ist in diesem Metier erhöhte Professionalisierung in allen Phasen der Lehrerbildung unerlässlich, weil Pädagogik bei Krankheit und Schule für Kranke - im wahrsten Wortsinn - für erkrankte Kinder und Jugendliche die „Schnur zum Leben“ darstellen.

 

Dr. Bruno J. Schor

Ludwig-Maximilians-Universität
Leopoldstraße 13
80802 München
 




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